Gespräche aus der Praxis

Im Laufe meiner langjährigen Beratertätigkeit wiederholen sich bestimmte Situationen immer wieder. In dieser Serie möchte ich einige Gespräche wiedergeben die häufig vorkommen. Der Name und die Gespräche sind frei erfunden, entsprechen jedoch der Realität.

Die Heimleiterin Frau P. ruft mich an und bittet um ein persönliches Gespräch. Nach der Begrüßung erklärt sie: „Die Heimbewohner und die Pflegemitarbeiter beklagen sich über das Essen. Es werden hauptsächlich Fertigprodukte verwendet, das Essen ist lieblos angerichtet und Vieles wird weggeschmissen. Dazu verstärkt sich der Eindruck, dass immer das Gleiche am Speiseplan steht. Auf die Wünsche der Heimbewohner geht die Küche zwar ein, aber das sind meistens ungesunde, zu fette Speisenwünsche. Und, viele Mitarbeiter vertragen unser Essen nicht. Sie haben danach Magendrücken, Blähungen und ein unnatürliches Völlegefühl und nehmen sich daher meist ihr Essen selber mit. Wenn ich den Küchenchef darauf anspreche, verschließt er sich augenblicklich und weigert sich mit mir darüber zu reden. Wir sind ein Gemeindebetrieb und es ist schwer, ihm einfach zu kündigen. Außerdem ist er schon seit 20 Jahren im Haus und hat noch rund 10 Jahre bis zur Pension. Was raten Sie mir?“

Van Melle: „Diese Situation ist nicht von heute auf morgen entstanden. Sie hat 20 Jahre gebraucht, um so zu werden, wie sie sich heute darstellt. Damals, als der Küchenleiter angefangen hat, war er sicher hochmotiviert und wollte nur das Beste für die Bewohner. Im Laufe der Zeit sind wahrscheinlich viele kleine Kommunikationsfehler passiert und er ist zweifelsohne oft missverstanden worden. Stellen Sie sich jedes kleine Betrübnis als Steinchen vor, das er vor sich und rund um die Küche aufbaut. Mit der Zeit entstand daraus eine gewaltige Mauer und der Küchenchef dahinter hat resigniert. Sein Verhalten jetzt, ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Er will – trotz Mauer – gehört werden.“

Frau P:  „OK und was mache ich jetzt?“

Van Melle: „Haben Sie Kinder?“

Frau P:  „Ja, einen Sohn.“

Van Melle: „Was würden Sie also mit ihrem Sohn machen, wenn er über ein gewisses Thema nicht mehr sprechen will?“

Frau P: „Ich würde zum Beispiel bei einem Ausflug einen günstigen Zeitpunkt abwarten und dann entspannt mit ihm reden.“

Van Melle: „Genau!“

Frau P: „Aber wir reden hier über einen fremden, erwachsenen Mann!“

Van Melle: „Nur weil wir älter werden, heißt das noch lange nicht, dass wir unsere Bedürfnisse ändern. Das Bedürfnis nach Anerkennung, Verständnis und gehört zu werden bleibt uns ein ganzes Leben lang. In Ihrem Fall bedeutet es ein Gespräch zu suchen, indem sich das Kind im Mann „ausheulen“ kann. Wo ihm jemanden zuhört und Verständnis für sein Verhalten zeigt. Für Sie heißt das in erste Linie: Zuhören. Er muss sich das Leid der letzten 20 Jahre von der Seele reden.“

Frau P: „Ich kenne ihn, das wird er nie machen. Wie schon erwähnt, er weigert sich mit mir darüber zu reden.“

Van Melle: „Vielleicht liegt es auch an Ihnen?“

Frau P: „An mir? Meine Tür ist doch immer offen und jeder Mitarbeiter kann jederzeit zu mir kommen.“

Van Melle: „Aber Sie haben selber gesagt, mit Ihrem Sohn würden Sie ein Gespräch suchen. Er würde nicht zu Ihnen kommen, sondern Sie wären auf eine Aussprache aus. Da hilft keine offene Tür.“

Frau P: „Was schlagen Sie vor?“

Van Melle: „Laden Sie Ihren Küchenchef zum Essen ein. Gehen Sie mit ihm in ein gutes Restaurant.“

Frau P: „Und was soll das bringen?“

Van Melle: „Abgesehen von einem guten Essen haben Sie jetzt die Gelegenheit, abseits der Arbeit, ihn besser kennenzulernen. Reden Sie nicht über die Arbeit, sondern fragen Sie ihn nach seinen Hobbys, seiner Familie, wovon er als Kind geträumt hat, ob er Zuhause auch kocht, ob er schon immer Koch werden wollte und was sein Lieblingsessen ist. Lernen Sie den Mensch kennen, seine Bedürfnisse, Ängste und Sorgen. Erzählen Sie auch über sich selbst, über Ihre Hoffnungen und Wünsche.“

Frau P: „Und die Probleme in der Arbeit soll ich überhaupt nicht erwähnen?“

Van Melle: „Schlagen Sie nach dem Essen einen Spaziergang vor. Am besten in der freien Natur. Erzählen Sie ein Problem(chen), dass Sie haben und fragen Sie ihn, ob er eine Lösung wüsste, ob er Ihnen helfen könnte dieses zu lösen. So kommen Sie langsam in den Lösungs- und Vertrauensmodus. Gehen Sie es langsam und behutsam an. Schritt für Schritt.“

Frau P: „Das kann ja ewig dauern!“

Van Melle: „Es hat 20 Jahre gedauert, um zu diesem Verhalten zu kommen. Sie können nicht erwarten, dass nach einem Gespräch alles gelöst ist. Genau wie er, müssen auch Sie Ihr Verhalten ändern und das wird auch nicht über Nacht gehen. Sie müssen lernen ein „Supportiv Leader“ zu sein. Das heißt, eine Führungskraft die zuhört, Mitarbeiter einlädt, ermutigt und inspiriert. Die Probleme, die es gibt entstehen zu 99% durch schlechte Führung oder der Abwesenheit von Führung.“

Frau P: „Also bin ich Schuld?“

Van Melle: „Es geht nicht um Schuld. Es geht darum was in einen Team funktioniert und was nicht. Die ewige Schuldfrage macht uns blind für die Wahrheit.“

Frau P: „Uns was ist die Wahrheit?“

Van Melle: „In Wahrheit sind wir alle verbunden, miteinander vernetzt. Alles was wir tun oder auch nicht tun, hat eine Auswirkung auf unser Um-Feld und unsere Um-Welt. Alles was wir sagen, denken und glauben, unser Verhalten, was wir essen, wie wir uns kleiden und wofür wir stehen, hat eine Wirkung. Wir leben in einer vernetzten Welt. Wenn ich jemanden beschuldige, hat das eine Auswirkung. Diese Person wird sich als Opfer fühlen und beginnt sich zu verteidigen. Meistens, indem er/sie für sein Verhalten einen anderen Schuldigen sucht.“

Frau P: „Wenn ich das richtig verstehe ist niemand Schuld, sondern einzig und allein unser Verhalten bestimmt, was zu gewissen Umstände führt.“

Van Melle: „Richtig, wollen Sie ein anderes Umfeld schaffen, müssen Sie ihr Verhalten ändern. Das ist natürlich gar nicht so einfach, weil wir meistens Opfer unseres Umfelds sind und unser Verhalten erst durch dieses Umfeld geprägt wurde.“

Frau P: „ Also das nächste Mal, wenn das Essen wieder lieblos angerichtet ist, sollte ich mich fragen welche Ursache dafür verantwortlich ist, dass sich die Köche so lieblos verhalten.“

Van Melle: „Genau“

Frau P: „Wow, so habe ich das noch nie gesehen. Vielen Dank. Ich werde mich an die Arbeit machen und Ihnen in ein paar Monate davon berichten.“

Van Melle: „Ja, machen Sie das und viel Erfolg!“

 

Sechs Monate später…

Frau P: „Ich habe genau das getan was Sie mir empfohlen haben.“

Van Melle: „Und?“

Frau P: „Es hat funktioniert! Am Anfang war er sehr skeptisch und wusste nicht genau was ich von ihm wollte. Er war verschlossen und seine Antworten eher kurz angebunden. Dann habe ich eine Flasche Wein bestellt und über mich erzählt. Meine Beweggründe für diesen Beruf und schlussendlich für diese Position. Und dass das Gefühl, für alle verantwortlich zu sein, mich manchmal sehr belastet, auch in meiner Funktion als Heimleiterin. Nach und nach öffnete er sich ebenso und wir verbrachten zwei angenehme Stunden im Restaurant. Ich weiß jetzt woran es gelegen hat.“

Van Melle: „Woran?“

Frau P: „An mir. Ich habe mir nie wirklich Zeit genommen meine Mitarbeiter kennenzulernen. Ich war viel zu beschäftigt mit Budgets, Vorschriften und Regeln. Ich wollte eine gute Heimleiterin sein, indem ich für die Gemeinde das Heim so führe, wie das von mir erwartet wird. Aber eigentlich führte ich bis zu diesem Zeitpunkt das Heim nicht. Ich war lediglich eine gute Verwalterin. Durch unser Gespräch und den Gesprächen mit meinen Mitarbeitern realisierte ich plötzlich, dass meine Verantwortung ganz woanders liegt.“

Van Melle: „Und wo liegt Ihre Verantwortung?“

Frau P: „Einzig und alleine bei den Menschen mit denen ich täglich zusammen bin: Den Mitarbeitern und Heimbewohnern. Ich verstehe jetzt, dass wenn es ihnen gut geht, es auch mir gut geht. Nun stehe ich in der Früh auf und überlegen, wie ich heute meine Mitarbeiter unterstützen kann, sodass die Heimbewohner sich noch wohler fühlen können. Meine Priorität hat sich verschoben, von der Verwalterin zum Supportive Leader, wie Sie das nannten.“

Van Melle: „Und was hat sich geändert?“

Frau P: „ Nach dem Restaurantbesuch mit der Küchenchef haben wir vereinbart, dass wir uns wöchentlich treffen. Natürlich nicht immer im Restaurant, sondern bei mir im Büro. Wir haben uns einige Regeln ausgemacht. Erstens sorge ich dafür, dass wir ungestört reden können. Keine Besuche, kein Handy, kein Telefon, ein paar Mehlspeisen und ein guter Kaffee. Zweitens haben wir vereinbart, beide im Lösungsmodus zu bleiben. Das heißt, keine Schuldzuweisungen oder Kritik. Nach jeder Sitzung gibt es eine kleine „To Do“ Liste für uns beide, die wir bis zum nächsten Mal umsetzen.“

Van Melle: „Und wie ist das Essen?“

Frau P: „Wir haben beschlossen zusätzlich eine Diätologin heranzuziehen, die gemeinsam mit dem Küchenleiter die Speisen ernährungsphysiologisch verbessert. Seitdem hat sich viel getan. Die Bewohner haben mehr Energie, der Medikamentenverbrauch ist drastisch zurückgegangen und dadurch, dass wir jetzt mehr Obst und Gemüse am Speiseplan haben, einfach frischer kochen, sind der Fleischkonsum und somit auch der Wareneinsatz gesunken. Für die Pflegemitarbeiter haben wir einen eigenen Speiseplan erstellt und bieten im Sommer ein Salatbuffet an. Seitdem ist die Stimmung bei der Pflege erheblich gestiegen.“

Van Melle: „Dann haben Sie einiges investiert?“

Frau P: „Nein, vorerst noch nicht. Die Diätologin kommt nur einmal wöchentlich. Diese Kosten sind nichts im Vergleich mit dem was wir gewonnen haben. Wie gesagt, der Pflegeaufwand ging zurück, der Wareneinsatz ist gesunken, die Krankenstände sind weniger und was unbezahlbar ist: Jeder kommt gerne zur Arbeit!“

Van Melle: „Was kommt als nächstes?

Frau P: „Wir haben jetzt gesehen, dass durch einen gute, unterstützende Kommunikation viel möglich ist. Als nächstes möchte ich wirklich investieren. Wir arbeiten an einen Bildungsplan für alle. Das Kaffeehaus möchten wir umbauen, ein Sonntagsbrunch und auch Zimmerservice werden überlegt. Einige Küchengeräte gehören erneuert oder neu angeschafft, neue Uniformen und gemeinsame Ausflüge. Und nächstes Jahr sind wir dann bereit für die Kesselzertifizierung!
Unser Ziel ist ein modernes Heim der Freude, das allen Wohlbefinden bereitet. Dadurch werden wir mehr freiwillige Helfer anziehen und auch so letztendlich ein ökonomisch verantwortliches Gemeindeunternehmen gewährleisten.“

Van Melle: „Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg und wir sehen uns bei der Zertifizierung. Ich freue mich schon darauf. “

 

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